Die Nachfolge Christi | drittes Buch | Kapitel 36
1. Daß die Menschen reden; du kannst es nicht allen recht machen.
2. Laß dich in kein Gezänk ein, es vergeht wie die Menschen.
1. (Der Herr:) Mein Sohn, "richte dein Herz fest auf den Herrn" (Ps 55, 23) und
fürchte dich nicht vor dem Urteil der Menschen, wenn dein Gewissen dich rein
und schuldlos erklärt. Gut ist es und heilsam, zu leiden. Einem demütigen
Herzen, das mehr auf Gott als auf sich selbst vertraut, wird das nicht schwer
fallen. Viele reden viel, und darum soll man ihnen wenig Glauben schenken! Es
aber allen recht machen ist unmöglich. Wenn Paulus "bestrebt war, allen im
Herrn zu gefallen", wenn er "allen alles wurde", so hielt er es doch für nichts,
"von einem menschlichen Gerichtstag verurteilt zu werden" (1 Kor 10, 33; 9, 22;
4,3). Er wirkte für die Erbauung und Rettung anderer, was nur in seinen Kräften
lag und so gut er konnte, aber er hat nicht verhindern können, daß er von
anderen gelegentlich bekrittelt oder mißachtet wurde. Darum stellte er alles Gott
anheim, der ja um alles wußte, und verteidigte sich mit Geduld und Demut
gegen "die Menschen, die ihm Böses nachsagten" (Ps 62, 12) oder törichte
Lügen ersannen und sich allerlei nach Willkür erlaubten. Doch hat er ihnen
bisweilen geantwortet, damit den Schwachen aus seinem Schweigen kein
Ärgernis entstünde.
2. "Wer bist du, daß du dich fürchtest vor einem sterblichen Menschen?" (Jes 51,
12). Heute ist er noch da, morgen erscheint er nicht mehr. Fürchte Gott, und du
zitterst nicht mehr vor den Schrecken der Menschen. Was vermag auch einer
gegen dich mit Worten und Kränkungen? Er schadet sich selbst mehr als dir und
kann, wer er auch sei, dem Gerichte Gottes nicht entfliehen. Habe Gott vor
Augen und laß dich nicht in Wortgezänk ein. Wenn es für den Augenblick auch
den Anschein hat, als wärest du unterlegen und müßtest eine unverdiente
Schmach erleiden, so werde deswegen nicht unwillig und mindere nicht durch
Ungeduld den Wert deiner Krone. Erhebe vielmehr deine Augen zu mir in den
Himmel; ich habe die Macht, dich aller und jeder Unbill zu entreißen und
"einem jeden zu vergelten nach seinen Werken" (Mt 16,27).