Aus "Die Nachfolge Christi" | drittes Buch | Kapitel 55
1. Ich bitte um die Gnade; nur sie kann mich umwandeln.
2. Wir Menschen sind nicht ganz verderbt, aber sehr schwach.
3. So schwach sind die Menschen, daß sie das Gute erkennen und das Böse tun.
4. In der Kraft der Gnade kann der Mensch alles überwinden.
2. Wir Menschen sind nicht ganz verderbt, aber sehr schwach.
3. So schwach sind die Menschen, daß sie das Gute erkennen und das Böse tun.
4. In der Kraft der Gnade kann der Mensch alles überwinden.
1. (Der Knecht:) Herr, mein Gott, du hast mich "nach deinem Bilde und Gleichnis"
erschaffen (Gen 1, 26). Gewähre mir deine Gnade! Du hast mir gezeigt, wie
wichtig und zum Heile notwendig sie ist, wenn ich meine sehr verderbte Natur,
die mich in die Sünde und ins Verderben zieht, überwinden soll. "Ich fühle in
meiner Leibnatur ein Gesetz der Sünde, das dem Gesetze meines Geistes
widerstreitet" (Röm 7,23) und mich in vieler Hinsicht zum gehorsamen
Gefangenen der Sinneslust macht. Ich kann ihrem Anreiz nicht widerstehen,
wenn deine heiligste Gnade mir nicht beisteht und mein Herz zu einem
glühenden Brande entzündet. Ich bedarf deiner Gnade, ich brauche eine große
Gnade, um die Natur zu besiegen, "die von Jugend an immer zum Bösen neigt"
(Gen 8,21).
2. Seitdem sie durch Adam, den ersten Menschen, zu Fall kam und durch die Sünde verderbt ward, geht dieser Makel als Strafe auf alle Menschen über. Dieselbe Natur, die du gut und recht erschaffen hast, ist als eine zum Laster geneigte, kranke, verderbte Natur anzusehen. Ihre Regungen, wenn sie sich selbst überlassen sind, treiben zum Bösen und Niedrigen. Die geringe noch übrig gebliebene Kraft gleicht einem unter der Asche verborgenen Funken. Das ist die natürliche Vernunft, die von dichtem Dunkel umlagert ist. Sie vermag noch über Gut und Böse zu urteilen und das Wahre vom Falschen zu unterscheiden. Doch besitzt sie nicht die Kraft, alles das auszuführen, was sie gut findet, sie erkennt nicht das volle Licht der Wahrheit und erfreut sich nicht der unbestrittenen Herrschaft über ihre Begierden.
3. Daher, mein Gott, habe ich "Freude an deinem Gesetze nach meinem inneren Menschen" (Röm 7, 22). Ich weiß, daß "dein Gesetz gut, gerecht und heilig ist" (Röm 7, 12), ich erkenne, daß man alles Böse und jede Sünde meiden muß. Doch "mit meiner Leibnatur diene ich dem Gesetz der Sünde" (Röm 7, 25) und gehorche ich mehr der Sinnlichkeit als der Vernunft. So kommt es, daß "mir zwar das Wollen des Guten liegt, daß ich mich aber zum Vollbringen nicht durchfinde" (Röm 7, 18). Ich nehme mir oft viel Gutes vor, aber es fehlt mir die Gnade, die meiner Schwäche aufhilft. Schon bei leichtem Widerstand strauchle und versage ich. Den Weg zur Vollkommenheit sehe ich, ich erkenne auch ziemlich klar, wie ich handeln muß, aber, niedergehalten durch das Gewicht der eigenen Verderbtheit kann ich mich zu dem, was vollkommener ist, nicht erheben.
2. Seitdem sie durch Adam, den ersten Menschen, zu Fall kam und durch die Sünde verderbt ward, geht dieser Makel als Strafe auf alle Menschen über. Dieselbe Natur, die du gut und recht erschaffen hast, ist als eine zum Laster geneigte, kranke, verderbte Natur anzusehen. Ihre Regungen, wenn sie sich selbst überlassen sind, treiben zum Bösen und Niedrigen. Die geringe noch übrig gebliebene Kraft gleicht einem unter der Asche verborgenen Funken. Das ist die natürliche Vernunft, die von dichtem Dunkel umlagert ist. Sie vermag noch über Gut und Böse zu urteilen und das Wahre vom Falschen zu unterscheiden. Doch besitzt sie nicht die Kraft, alles das auszuführen, was sie gut findet, sie erkennt nicht das volle Licht der Wahrheit und erfreut sich nicht der unbestrittenen Herrschaft über ihre Begierden.
3. Daher, mein Gott, habe ich "Freude an deinem Gesetze nach meinem inneren Menschen" (Röm 7, 22). Ich weiß, daß "dein Gesetz gut, gerecht und heilig ist" (Röm 7, 12), ich erkenne, daß man alles Böse und jede Sünde meiden muß. Doch "mit meiner Leibnatur diene ich dem Gesetz der Sünde" (Röm 7, 25) und gehorche ich mehr der Sinnlichkeit als der Vernunft. So kommt es, daß "mir zwar das Wollen des Guten liegt, daß ich mich aber zum Vollbringen nicht durchfinde" (Röm 7, 18). Ich nehme mir oft viel Gutes vor, aber es fehlt mir die Gnade, die meiner Schwäche aufhilft. Schon bei leichtem Widerstand strauchle und versage ich. Den Weg zur Vollkommenheit sehe ich, ich erkenne auch ziemlich klar, wie ich handeln muß, aber, niedergehalten durch das Gewicht der eigenen Verderbtheit kann ich mich zu dem, was vollkommener ist, nicht erheben.
4. Herr, wie höchst notwendig ist mir deine Gnade, um das Gute zu beginnen,
mit Erfolg fortzusetzen und zu vollenden. "Ohne sie kann ich nichts tun" (Joh
15, 5), "alles aber vermag ich in dir, wenn deine Gnade mich stärkt" (Phil 4, 13).
Wahrhaft himmlische Gnade, ohne die es keine eigenen Verdienste gibt, ohne
die auch die Gaben der Natur wertlos sind! Keine Kunst, kein Reichtum, keine
Schönheit und Tapferkeit, kein Talent, keine Beredsamkeit gilt etwas vor dir, O
Herr, ohne die Gnade. Die Gaben der Natur sind den Guten und den Bösen
gemeinsam, das besondere Geschenk der Auserwählten aber ist die Gnade oder die Liebe; mit ihr geziert, sind sie des ewigen Lebens würdig. So überragend ist
diese Gnade, daß ohne sie die Gabe der Prophetie, der Wunderkraft oder die
Gabe einer hohen Beschauung nichts bedeuten. Nicht einmal Glaube oder
Hoffnung oder andere Tugenden gefallen dir ohne die Liebe und die Gnade.
Übergroße Seligkeit der Gnade, du machst den Armen im Geiste reich an
Tugenden und den mit vielen Gütern Gesegneten demütig. Komm, steige herab
zu mir! "Erfülle mich am Morgen mit deinem Troste" (Ps 90, 14), daß meine
Seele nicht vor Müdigkeit und Dürre des Geistes ermatte. Ich beschwöre dich,
Herr, laß mich "Gnade finden in deinen Augen" (Gen 18, 3). "Deine Gnade
genügt mir" (2 Kor 12, 9), wenn auch das Begehren der Natur nicht gestillt wird.
Werde ich von vielen Trübsalen versucht und gequält, so "fürchte ich doch kein
Übel" (Ps 23,4), wenn deine Gnade mir nur bleibt. Sie ist meine Kraft, sie gibt
mir Rat und Hilfe. Sie ist mächtiger als alle Feinde, klüger als alle Weisen. Sie
ist Lehrerin der Wahrheit, "Meisterin der Zucht" (Weish 8, 4), Licht des
Herzens, Trost in der Bedrängnis. Sie verscheucht die Trauer, nimmt die Furcht,
nährt die Andacht und öffnet den Quell der Tränen. Was bin ich ohne sie anders
als dürres Holz, als ein unnützer Stock, den man wegwirft? Möge denn deine
Gnade, Herr, mir stets zuvorkommen und nachfolgen und mich immerdar
anleiten, gute Werke zu vollbringen! Durch Jesus Christus, deinen Sohn. Amen.