Aus der Philothea von Franz von Sales ERSTER TEIL
Anweisungen und Übungen, um den ersten
Wunsch nach einem frommen Leben in einen
festen Entschluß umzuwandeln.
1. Kapitel
Du sehnst dich nach Frömmigkeit, denn als Christ weißt du, daß sie eine Tugend ist, die der
göttlichen Majestät überaus gefällt. Kleine Fehler am Beginn eines Unternehmens wirken sich aber
immer schlimmer aus, je weiter es fortschreitet; am Ende sind sie nicht wieder gutzumachen.
Deshalb mußt du zunächst wissen, was die Tugend der Frömmigkeit ist.
Es gibt nur eine wahre Frömmigkeit, an falschen und irrigen Spielarten dagegen eine ganze Reihe.
Wenn du die echte nicht kennst, kannst du dich leicht verirren und einer unbrauchbaren,
abergläubischen nachlaufen.
Aurelius gab auf seinen Bildern den Frauen die Züge jener, die er liebte. So malt sich jeder gern
seine eigene Frömmigkeit aus, wie er sie wünscht und sich vorstellt. Wer gern fastet, hält sich für
fromm, weil er fastet, obgleich sein Herz voll Rachsucht ist. Vor lauter Mäßigkeit wagt er nicht,
seine Zunge mit Wein, ja nicht einmal mit Wasser zu benetzen, aber er schrickt nicht davor zurück,
sie in das Blut seiner Mitmenschen zu tauchen durch Verleumdung und üble Nachrede. - Ein
anderer hält sich für fromm, weil er täglich eine Menge Gebete heruntersagt, obwohl er nachher
seiner Zunge alle Freiheit läßt für Schimpfworte, böse und beleidigende Reden gegen
Hausgenossen und Nachbarn. - Der eine entnimmt seiner Geldbörse gern Almosen für die Armen,
aber er kann aus seinem Herzen nicht die Liebe hervorbringen, seinen Feinden zu verzeihen. - Der
andere verzeiht wohl seinen Feinden, seine Gläubiger befriedigt er aber nur, wenn ihn das Gericht
dazu zwingt.