Aus der Philothea von Franz von Sales / erster Teil / 3. Kapitel
Bei der Schöpfung befahl Gott den Pflanzen, Frucht zu tragen, jede nach ihrer Art (Gen 1,11). So
gibt er auch den Gläubigen den Auftrag, Früchte der Frömmigkeit zu tragen; jeder nach seiner Art
und seinem Beruf. Die Frömmigkeit muß anders geübt werden vom Edelmann, anders vom
Handwerker, Knecht oder Fürsten, anders von der Witwe, dem Mädchen, der Verheirateten. Mehr
noch: die Übung der Frömmigkeit muß auch noch der Kraft, der Beschäftigung und den Pflichten
eines jeden angepaßt sein.
Wäre es denn in Ordnung, wenn ein Bischof einsam leben wollte wie ein Kartäuser? Oder wenn
Verheiratete sich so wenig um Geld kümmerten wie die Kapuziner? Kann ein Handwerker den
ganzen Tag in der Kirche verbringen, wie die Mönche es tun? Dürfen anderseits Mönche aus
beschaulichen Orden jedermann zur Verfügung stehen, wie es der Bischof muß? - Eine solche
Frömmigkeit wäre doch lächerlich, ungeordnet, ja unerträglich. Solche Dinge kommen aber oft vor.
Weltmenschen, die den Unterschied zwischen der Frömmigkeit und ihren Zerrbildern nicht kennen
oder nicht kennen wollen, schmähen dann die Frömmigkeit, die wahrhaftig keine Schuld an solcher
Unordnung trifft.
Nein, echte Frömmigkeit verdirbt nichts; im Gegenteil, sie macht alles vollkommen. Verträgt sie
sich nicht mit einem rechtschaffenen Beruf, dann ist sie gewiß nicht echt. Die Bienen, sagt
Aristoteles, entnehmen den Blumen Honig, ohne ihnen zu schaden; sie bleiben frisch und
unversehrt. Die echte Frömmigkeit schadet keinem Beruf und keiner Arbeit; im Gegenteil, sie gibt
ihnen Glanz und Schönheit. Kostbare Steine erhalten einen höheren Glanz, jeder in seiner Farbe,
wenn man sie in Honig legt. So wird auch jeder Mensch wertvoller in seinem Beruf, wenn er die
Frömmigkeit damit verbindet. Die Sorge für die Familie wird friedlicher, die Liebe zum Gatten
echter, der Dienst am Vaterland treuer und jede Arbeit angenehmer und liebenswerter.
Es ist ein Irrtum, ja sogar eine Irrlehre, die Frömmigkeit aus der Kaserne, aus den Werkstätten, von
den Fürstenhöfen, aus dem Haushalt verheirateter Leute verbannen zu wollen.
Gewiß, die beschauliche und klösterliche Frömmigkeit kann in diesen Berufen nicht geübt werden.
Aber es gibt ja außerdem noch viele Formen eines frommen Lebens, die jene zur christlichen
Vollkommenheit führen, die in einem weltlichen Stand leben. Im Alten Bund sehen wir als
Beispiele Abraham, Isaak, Jakob, David, Job, Tobias, Sara, Rebekka, Judith. Im Neuen Bund
führten ein Leben vollkommener Frömmigkeit die Heiligen Josef, Lydia, Krispin in den
Werkstätten, Anna, Martha, Monika, Aquila und Priszilla im Haushalt, Kornelius, Sebastian,
Mauritius als Soldaten, Konstantin, Helena, der hl. Ludwig, der selige Amatus, der hl. Eduard auf
dem fürstlichen Thron.
Es ist sogar geschehen, daß Menschen ihre Vollkommenheit in der Einsamkeit verloren haben,
obwohl sie für ein frommes Leben so geeignet ist, und sie inmitten der Gesellschaft bewahrt haben,
die dafür wenig günstig erscheint. Von Lot sagt der hl. Gregor, er sei in der Stadt ganz keusch
geblieben, in der Einsamkeit habe er seine Seele befleckt. Wo immer wir sind, überall können und
sollen wir nach einem Leben der Vollkommenheit streben.