Aus "Die Nachfolge Christi" von Thomas von Kempen | Zweites Buch | Wege zum inneren Leben | Kapitel 5
1. Bist du blind für dich selbst?
2. Lerne dich selbst kennen, über andere schweige.
3. Gott allein sei der große Gedanke deines Lebens.
1. Bist du blind für dich selbst?
2. Lerne dich selbst kennen, über andere schweige.
3. Gott allein sei der große Gedanke deines Lebens.
1. Wir dürfen uns selbst nicht viel trauen, da es uns oft an der Gnade gebricht und
an der rechten Einsicht. Nur ein mattes Licht brennt in uns, und dieses winzige
Licht bringen wir noch durch unsere Nachlässigkeit schnell zum Erlöschen. Oft
nehmen wir es gar nicht einmal wahr, daß wir innerlich so blind sind. Oft
handeln wir schlecht, und, was noch schlimmer, wir entschuldigen uns.
Zuweilen treibt uns die Leidenschaft, und wir halten es für Eifer. Wir tadeln
geringe Fehler an andern, und über unsere größeren Fehler gehen wir hinweg.
Sehr schnell empfinden wir, was andere uns zu ertragen geben, und legen es auf
die Waage; was aber andere von uns hinzunehmen haben, das beachten wir
nicht. Wer sein eigenes Verhalten recht und gut abwägt, hat keine Ursache, über
andere hart zu urteilen.
2. Der innerliche Mensch stellt die Sorge um sich selbst allen anderen Sorgen vor.
Wer sorgsam auf sich selbst achtet, schweigt gern von anderen. Niemals wirst
du innerlich und fromm sein, wenn du nicht über die anderen schweigst und ein
besonderes Augenmerk auf dich selbst richtest. Siehst du nur auf dich und auf
Gott, wird dich die Außenwelt wenig bewegen. Wo bist du, wenn du nicht bei
dir selbst bist? Und bist du überall gewesen, was hast du bei Vernachlässigung
deiner selbst gewonnen? Sollst du Frieden und wahre Eintracht haben, mußt du
alles hintansetzen und dich allein vor Augen haben. Du wirst sehr gut
voranschreiten, wenn du dich von aller zeitlichen Sorge trennst. Und viel wirst
du verlieren, wenn du den Erdendingen zuviel Wert beilegst.
3. Nichts sei dir groß, nichts erhaben, nichts angenehm und willkommen als Gott
allein und was von Gott kommt. Erachte alles für eitel, was ein Geschöpf dir an
Trost bietet. Eine Seele, die Gott liebt, verschmäht alles, was weniger ist als
Gott. Gott allein, der Ewige, Unermeßliche, der alles erfüllt, ist der Seele Trost
und des Herzens wahre Freude.