Aus der Philothea von Franz von Sales / zweiter Teil / 6. Kapitel
Die Betrachtung weckt Regungen des Herzens im Willen, dem Sitz der Affekte: So die Liebe zu
Gott und dem Nächsten, die Sehnsucht nach dem Himmel, den Eifer für das Heil der Seelen und für
die Nachfolge Christi, Mitleid, Bewunderung, Freude, Furcht vor Gottes Ungnade, vor dem Gericht
und der Hölle, Haß gegen die Sünde, Vertrauen in Gottes Güte und Erbarmen, Scham über das
frühere Sündenleben. In diesen Affekten soll sich die Seele ergießen und entfalten, soviel es ihr nur
möglich ist. Brauchst du dazu Hilfe, so nimm den ersten Band der Betrachtungen von Don Andrea
Capiglia zur Hand und lies seine Vorrede, in der er zeigt, wie man seine Affekte vertieft; noch
eingehender spricht davon P. Arias in seiner Abhandlung über die Betrachtung.
Du darfst dich aber nicht mit diesen allgemeinen Affekten begnügen, mußt sie vielmehr in besondere, ins einzelne gehende Vorsätze für deine Besserung umwandeln. So wird wohl das erste
Wort des Herrn am Kreuz in dir den Wunsch wecken, ihm nachzufolgen, deinen Feinden zu
verzeihen und sie zu lieben. Ich muß aber sagen, das ist zu wenig, wenn du nicht einen besonderen
Entschluß hinzufügst, wie diesen: Ich werde mich also nicht mehr über diese und jene Worte
beleidigt zeigen, die der oder jener, mein Nachbar oder meine Nachbarin, mein Diener oder meine
Magd über mich sagen, noch auch über die Geringschätzung, die dieser oder jener zeigt; im
Gegenteil, ich will dies oder das tun, um sie zu gewinnen und zu besänftigen usw.
So wirst du deine Fehler in kurzer Zeit bessern, durch bloße Affekte dagegen läßt sich das nur
langsam und mangelhaft erreichen.