Großes Johannesevangelium 1.221.1 - 25
Vom Übel der Trägheit und vom Segen der Tätigkeit.
Laue und scharfe Regenten. Maria und Thomas. Aufzeichnung dieser Lehre
von der Tätigkeit, genannt »die Nachtpredigt«, durch Matthäus. Warum
diese Aufzeichnung verlorenging.
[GEJ 1.221.1] (Der Herr:) „So jemand einen weiten
Weg zurückgelegt hat zu Fuß und erreicht endlich eine Herberge, so wird
er, wenn er in der Herberge sich nicht alsobald zur Ruhe begeben wird,
sondern kleine Bewegungen machen und am nächsten Tage schon vor dem
Aufgange auf den Füßen sein wird, den ganzen Tag über von keiner
Müdigkeit etwas verspüren, und je länger er also seine Reise fortsetzen
wird, desto weniger müde wird sie ihn machen.
|
[GEJ 1.221.2] So aber jemand ebenso stark ermüdet
vom Tagesmarsche auf eine Herberge kommt, sich sogleich auf ein Lager
hinwirft und dasselbe gar erst am Mittag des nächsten Tages verläßt, so
wird er mit völlig steifen Füßen und mit einem völlig betrunkenen Kopfe
seine Weiterreise fortzusetzen anfangen und wird nach einer Strecke
zurückgelegten Weges sich vor lauter Müdigkeit nach einer Ruhe sehnen,
und es kann am Ende sogar geschehen, daß er am Wege liegenbleibt und
allda verkümmert, so ihm niemand – was leicht möglich – zu Hilfe kommt. |
[GEJ 1.221.3] Was aber schuldet daran? Seine
eigene zu große Ruhelust und der mit derselben verbundene Wahn, daß die
Ruhe den Menschen stärke. |
[GEJ 1.221.4] So jemand in einer oder der andern
Kunst, dazu Hand- und Fingergeschicklichkeit in hohem Grade erfordert
werden, eine große, staunenerregende Fertigkeit erreichen will, Frage:
Wird er diese erreichen, so er an der Stelle des unausgesetzten
fleißigen Übens an jedem Tage seine Hände und Finger in die Taschen
steckt und Tag für Tag fein müßig herumwandelt aus einer Art
vorsichtiger Furcht, seine Hände und Finger nicht zu ermüden und sie für
die anzustrebende Künstlerschaft ja etwa nicht zu steif und unfähig zu
machen? |
[GEJ 1.221.5] Wahrlich, da könnte Ich Selbst bei
aller Meiner unbegrenzten Weisheit nicht einen Propheten machen und die
Zeit festsetzen, in der solch ein Kunstjünger ein Virtuose wird! Daher,
Meine lieben Freunde und Brüder, sage Ich euch wiederholt: |
[GEJ 1.221.6] Nur Tätigkeit über Tätigkeit zum
allgemeinen Wohle der Menschen! Denn alles Leben ist eine Frucht der
beständigen und nie zu ermüdenden Tätigkeit Gottes und kann daher nur
durch die wahre Tätigkeit erhalten und für eine ewige Dauer bewahrt
werden, während aus der Untätigkeit nichts als der Tod zum Vorschein
kommt und kommen muß. |
[GEJ 1.221.7] Leget eure Hände auf euer Herz und
merket es, wie es in einem fort Tag und Nacht tätig ist! Von solcher
Tätigkeit aber hängt ja das Leben des Leibes alleinig ab; so das Herz
aber einmal stillzustehen anfängt, da – meine Ich – dürfte es etwa mit
dem natürlichen Leben des Leibes wohl gar sein! |
[GEJ 1.221.8] Wie aber die Ruhe des leiblichen
Herzens offenbar der volle Tod des Leibes ist, also ist auch die gleiche
Ruhe des Seelenherzens der Tod der Seele! |
[GEJ 1.221.9] Das Herz der Seele aber heißt Liebe, und das Pulsen desselben spricht sich in wahrer und voller Liebtätigkeit aus. |
[GEJ 1.221.10] Die unausgesetzte Liebtätigkeit ist
demnach der nie zu ermüdende Pulsschlag des Seelenherzens. Je emsiger
aber das Herz der Seele pulst, desto mehr Leben erzeugt sich in der
Seele, und so dadurch ein hinreichend hoher Lebensgrad in der Seele sich
erzeugt hat, so daß er dem göttlichen, allerhöchsten Lebensgrade
gleichkommt, so weckt solch ein Lebensgrad der Seele das Leben des
göttlichen Geistes in ihr. |
[GEJ 1.221.11] Dieser – als pur Leben, weil die
unermüdete höchste Tätigkeit selbst – ergießt sich dann in die ihm durch
die Liebtätigkeit gleichgewordene Seele, und das ewig unverwüstbare
Leben hat in der Seele seinen vollen Anfang genommen! |
[GEJ 1.221.12] Und sehet, das kommt alles von der Tätigkeit, nie aber von einer faulen Ruhe her! |
[GEJ 1.221.13] Daher fliehet die Ruhe und suchet die volle Tätigkeit, und euer Lohn wird sein das ewige Leben! |
[GEJ 1.221.14] Glaubt ja nicht, daß Ich etwa
gekommen sei, den Menschen auf dieser Erde den Frieden und die Ruhe zu
bringen; o nein, sondern das Schwert und den Krieg! |
[GEJ 1.221.15] Denn die Menschen müssen durch Not
und Drangsale aller Art zur Tätigkeit angetrieben werden, ansonst sie zu
trägen Mastochsen würden, die sich selbst mästeten zum Fraße für den
ewigen Tod! |
[GEJ 1.221.16] Not und Drangsal bewirken im
Menschen ebenfalls eine Gärung um die andere, aus welcher sich am Ende
doch etwas Geistiges entwickeln kann. |
[GEJ 1.221.17] Man könnte freilich wohl sagen:
,Durch Not und Drangsal aber werden auch Zorn, Rache, Mord und Totschlag
erzeugt und Neid, Hartherzigkeit und Verfolgung!‘ Das ist allerdings
wahr; aber so arg alle diese Dinge sind, so sind sie dennoch ob des
Erfolges besser als die faule Ruhe, die tot ist und weder etwas Gutes
noch etwas Böses bewirkt. |
[GEJ 1.221.18] Darum sage Ich euch: Entweder sei
jemand gegen Mich vollends warm oder vollends kalt; denn einen Lauen
will Ich aus Meinem Munde speien! |
[GEJ 1.221.19] Ein energischer Feind ist Mir
lieber als ein lauer Freund; denn der energische Feind wird Mich nötigen
zu aller Tätigkeit, auf daß Ich ihn entweder gewinne oder die rechten
Wege einschlage, um ihn für Mich durch alle Zeiten unschädlich zu
machen; neben einem lauen Freunde aber werde Ich Selbst lau, und wenn
Mich eine Not träfe, wird Mir der laue Freund zu etwas nütze sein?! |
[GEJ 1.221.20] Darum ist auch ein lauer Regent
eine Pest für sein Volk; denn da vermodert des Volkes Geist, und aus den
Menschen werden lauter Freßochsen und Lastesel! Aber ein scharfer und
sogar tyrannischer Regent macht das Volk lebendig, und es ist alles voll
Tätigkeit, um nur in keine Strafe zu verfallen; und treibt es ein
Tyrann zu toll, so wird das Volk sich endlich in Massen erheben und wird
sich von seinem Peiniger befreien. |
[GEJ 1.221.21] Ich meine nun, über den Wert der
Tätigkeit hinreichend gesprochen zu haben, und bin überzeugt, daß ihr
alle diese Lehre verstanden habt. Darum, so jemand will und in sich ein
Bedürfnis zur Schlafruhe seines Leibes fühlt, der suche sich ein Lager;
der aber mit Mir die Nacht über wachen will, der bleibe hier!“ Da sagten
alle: „Herr, so Du wachest, wie könnten wir da schlafen?! – Nur die
Mutter Maria scheint der Leibesruhe zu bedürfen, und so könntest Du sie
wohl schlafen heißen.“ |
[GEJ 1.221.22] Aber die Maria, obschon sie hinter
Mir auf einem Lehnstuhle ein wenig schlummerte, vernahm dennoch diese
Rede, richtete sich auf und sagte zu dem Redner in aller Freundlichkeit:
„Freund, der du gewöhnlich deinen Mund für alle deine Mitjünger
auftust, ich sage dir, daß deine Sorge um mich ein wenig eitel ist; denn
sieh, ich habe meinem Herrn zuliebe wohl schon mehrere Hunderte von
schlaflosen Nächten durchwacht, und ich lebe noch – und werde noch so
viele durchwachen und darob das Leben nicht verlieren, so es Sein Wille
ist! Daher kümmert ihr euch alle um mich nicht; es ist genug, daß Einer
meiner gedenkt!“ |
[GEJ 1.221.23] Es war aber dies der Thomas, an den
diese Worte gerichtet waren. Dieser aber kam zur Maria und bat sie, daß
sie ihm seine gute Meinung nicht ungütig aufnähme. Maria aber tröstete
ihn und war sehr freundlich ob seiner Sorge um sie, und dem Thomas ward
es wieder leichter ums Herz, daß er alsbald wieder ganz beruhigt seinen
Platz einnahm. |
[GEJ 1.221.24] Es trat nun auf eine Zeit eine
Stille ein. Niemand redete ein Wort; denn sie alle dachten nun viel
darüber nach und fanden die Wahrheit des Gesagten stets heller und
heller leuchtend. |
[GEJ 1.221.25] Nur Matthäus sagte nach einer Weile
für sich selbst: „Morgen beim ersten Tagesanbruch wird diese Lehre von
der Tätigkeit und von der Ruhe, so gut es geht, niedergeschrieben auf
eine eigens bloß für diese Lehre bestimmte Platte; denn diese über alles
wichtige Lehre darf um keinen Preis der Welt verlorengehen!“ Und als es
dann bald darauf zu tagen begann, so hielt Matthäus auch sein Wort; und
es hat sich diese Lehre für sich dann lange erhalten und ist durch
Jonael und Jairuth auch nach Samaria überbracht worden, ward aber mit
der Zeit sehr entstellt und ging darum auch verloren. Solange sie aber
noch gang und gäbe war, kursierte sie unter dem Namen „die Nachtpredigt“
im Volke.
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