Hl. Hildegard von Bingen: Scivias. 11. Vision des 3. Teils (25-41) – Antichrist
25. Vom Antichrist und seiner Mutter.
Doch der wahnsinnige Mörder, nämlich der Sohn des Verderbens, wird in kürzester Zeit kommen, wie der Tag schon scheidet, wenn die Sonne am Abend untergeht, d. h. wenn die letzte Zeit schon schwindet und die Welt ihren Lauf aufgibt. O meine Getreuen, hört dieses Zeugnis und versteht es ergeben als Warnung, damit euch nicht der ohne euer Wissen plötzlich über euch kommende Schrecken dieses Verderbers ins Unglück des Unglaubens und der Verwerfung stürze. Bewaffnet euch daher und bereitet euch, auf diese Weise gewarnt, mit zuverlässigen Verschanzungen für den so heftigen Kampf. Wenn nämlich diese Zeit gekommen ist, da jener schlimme Betrüger schrecklich in Erscheinung treten soll, ist die Mutter, welche diesen Verführer in die Welt setzen soll, von ihrer Kindheit an und im Mädchenalter durch teuflische Künste voller Laster in einer abgelegenen Wüste unter ganz gottlosen Menschen erzogen worden. Ihre Eltern wissen nichts von ihrem dortigen Aufenthalt und die, mit denen sie zusammenlebt, kennen sie nicht; denn der Teufel überredet sie, dorthin zu gehen und bereitet sie dort durch Täuschung nach seinem Wunsch vor, als ob er ein heiliger Engel wäre. Und sie trennt sich deshalb von den Menschen, um sich umso leichter verbergen zu können. Daher vereinigt sie sich auch mit einigen, wenn auch wenigen Männern heimlich in der schlimmsten Preisgabe der Unzucht und entehrt sich mit ihnen in so großem Eifer für die Unsittlichkeit, wie der heilige Engel sie die Leidenschaft ihre Schlechtigkeit vollbringen läßt. Und so empfängt sie in der brennendsten Glut ihrer Unzucht den Sohn des Verderbens und weiß nicht, von welchem Samen dieser Männer sie ihn empfangen hat.
Doch Luzifer, nämlich die alte Schlange, von dieser Schändlichkeit entzückt, weht nach meinem gerechten Urteil dieses Gerinnsel mit seinen Ränken an und besitzt es mit allen seinen Kräften gänzlich im Schoß seiner Mutter. So geht dieser Verderber aus dem Leib seiner Mutter voll teuflischen Geistes hervor. Dann meidet sie die gewohnte Unzucht und sagt dem törichten und unwissenden Volk offen, daß sie keinen Mann habe und den Vater ihres Kindes nicht kenne. Die Unzucht, die sie beging, nennt sie heilig und daher hält sie das Volk für heilig und nennt sie so. So wird der Sohn des Verderbens bis zum kräftigeren Alter erzogen und entzieht sich immer dem ihm bekannten Volk.