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Schrifttexterklärungen: „Und er (Zachäus) lief voraus und stieg auf einen Maulbeerbaum, auf daß er Ihn sähe...“

Empfangen durch Jakob Lorber  •  Schrifttexterklärungen 31. Kapitel –  (bezugnehmend auf Lukas 19,4) 14. Februar 1844 abends
 

[31,01] „Und er (Zachäus) lief voraus und stieg auf einen Maulbeerbaum, auf daß er Ihn sähe; denn allda würde Er vorbeikommen.“
[31,02] Dieser Vers enthält zwar auch nur die Angabe einer Tatsache, und ihr könntet zufolge einer vorangeschickten Lehre meinen, daß darin ebenfalls ein ewig nie voll zu erfassender tiefer Sinn verborgen liege; allein das ist hier eben nicht der Fall, und das aus dem Grunde, weil sie nicht vom Herrn, sondern nur von einem Menschen ausgeübt wird. Dessenungeachtet aber hat dennoch diese unbedeutend scheinende Szene einen inneren, geistigen Gehalt und wird aus dem Grunde im Evangelium erzählt, weil in ihr eine gar gute anwendbare Lehre für jeden Menschen enthalten ist.
[31,03] Es dürfte hier freilich so mancher Weltweise sagen: „Was kann wohl hinter dieser höchst gewöhnlich alltäglichen Sache stecken? Was wußte der Zachäus von Christus anderes, als wir heutzutage allenfalls von einem sogenannten Tausendkünstler wissen?
[31,04] Wenn wir aber in einem Orte im voraus erfahren, daß ein solcher weltberühmter Tausendkünstler durch denselben ziehen wird, da wird sich auch alles hinaus auf die Gassen und Straßen machen und wird mit großer Sehnsucht den Einzug des Wundermannes erwarten. Sind nun glücklicherweise irgend leicht besteigbare Bäume bei der Straße, so werden sie sicher von den Knaben und auch mitunter von größeren, aber ebenfalls sehr neugierigen Menschen in Beschlag genommen werden.

[31,05] Was für ein Sinn liegt wohl hinter dieser Erscheinung? Sicher kein anderer als der mit den Händen zu greifende, daß nämlich mehrere neugierige Laffen den Wundermann auch haben zu Gesichte bekommen wollen.
[31,06] Die Moral, die sich daraus entnehmen ließe, könnte höchstens also lauten: „Höret, ihr Buben und neugierigen Menschen, und ihr Kleingewachsenen auch, die ihr nicht vermöget über die großen Lümmel hinwegzusehen! Bemühet euch bei solchen Gelegenheiten frühzeitig, euch der Bäume zu bemächtigen, damit auch ihr bei solchen Gelegenheiten eure Gafflust befriedigen könnet, ohne darauf Rücksicht zu nehmen, ob durch die Beachtung dieser Moral auch so mancher Baum beschädigt wird!“
[31,07] Da hätten wir eine Exegese, wie sie die Welt gibt. Ich gab sie hier darum im vorhinein, um es der Welt zu erleichtern, damit sie hernach bei der Beurteilung Meiner für sie unverständlichen Exegesen eine leichtere Arbeit im Satyrisieren hat.
[31,08] Wir aber wollen nun sehen, welch ein ganz anderer Sinn und welch ganz andere Moral hinter diesem einfachen Texte steckt. Wir wollen diese Erklärung so sonderbar als möglich anfangen und wollen das Praktische vorausschicken und das Theoretische dann hinterdrein gewisserart von sich selbst verstehen lassen.
[31,09] Und so sage Ich: Die ganze Welt ist voll Zachäusse, und ihr selbst seid es nicht minder! Tuet demnach, was dieser tat, und Ich werde dann auch zu euch sagen und tun, was Ich zu diesem Zachäus sagte und hernach tat. Der Weg, den Ich mit den Meinigen zu ziehen pflege, ist euch bekannt; ihr seid gleichwie der Zachäus sündige Zöllner der Welt.
[31,10] Was tat aber Zachäus, um Mich am Wege zu erschauen? Er war klein von Person; er lief voraus und stieg auf einen Maulbeerbaum, das heißt soviel als: Der sündige Mensch erkannte seinen Unwert vor Mir, er war somit voll Demut und glich oder gleicht dem Zöllner im Tempel, der sich auch nicht getraute, sein Haupt aufwärts zu erheben.
[31,11] Aber die Demut ist die Hauptnahrung der Liebe. Die Liebe wird dadurch mächtiger und kräftiger zu Dem, vor dem sie ihren großen Unwert fühlt. Und je unwürdiger sie sich fühlt, desto größer wird ihr Zug zu Ihm, weil ihre Achtung in dem Grade wächst, als sie in ihrem eigenen Werte sinkt. Solche Liebe denkt dann nur an Den, den sie als ihr höchstes Gut allerhöchst achtet.
[31,12] In dieser Beschäftigung mit dem für solche Liebe höchst achtbaren Gegenstande liegt ein stets heller werdendes Licht, in welchem der Mensch denkt und denkt und sucht und sucht, wie er seinen erhabensten Gegenstand seiner Beschauung näherbringen könnte. Und dieses Denken und Denken und Suchen und Suchen gleicht dem Vorauseilen des Zachäus.
[31,13] Er ist am richtigen Wege; aber er weiß auch, daß der Herr das Inwendigste aller Dinge ist, und ist somit in großem Gedränge und wird somit auf diesem zwar rechten Wege dennoch nicht zu erspähen sein. Aber die Begierde, den Herrn zu schauen, ist mächtiger als dieser Einwurf und mächtiger als dieses Gedrängehindernis und fordert alle Kräfte in dem Menschen auf, sich dahin zu erheben und einen solchen Standpunkt zu erreichen, von dem aus man über das Gedränge und inmitten des Gedränges dennoch den Herrn erschauen könnte.
[31,14] Ein Baum wird erwählt und bestiegen: ein Maulbeerbaum, gleich dem Erkenntnisbaume, in dessen Blättern der feine glänzende Stoff zu den Königskleidern verborgen ist. Also durch höhere Erkenntnisse und durch das Licht des Glaubens will der Mensch den Herrn erschauen; darum eilt er voraus und besteigt den symbolischen Baum der Erkenntnis, der zwar eine süße Frucht hat, die aber dennoch niemandem zur Sättigung gereicht. Sie sättigt wohl scheinhalber, aber nach solcher Scheinsättigung folgt gewöhnlich ein größerer Hunger, als ihn jemand zuvor hatte.
[31,15] Also verhält es sich auch mit den höheren Erkenntnissen auf dem Wege der Verstandesforschungen. Diese Erkenntnisse scheinen zwar auch im Anfange den Geist überraschend zu sättigen; aber kurze Zeit darauf spricht sein begehrender Magen: „Die wenigen Süßträublein haben mich nur schläfrig gemacht, aber nicht gesättigt; ich hatte wohl ein kurzes Gefühl von Sattsein, war aber dessenungeachtet leer!“
[31,16] Sehet, das ist ein klares Bild, was der Maulbeerbaum bezeichnet, den der Zachäus freilich in der allerbesten Absicht bestieg, und es wäre gut für alle solche weltgelehrten Zöllner und Sünder, so sie in der Absicht des Zachäus den Baum der Erkenntnis am Wege des Herrn besteigen möchten. Sie würden eben das erreichen, was der Zachäus erreicht hat.
[31,17] Aber leider wird der Erkenntnisbaum nur höchst selten in der Weise des Zachäus bestiegen, und so manche Zachäusse besteigen wohl auch in einer etwas besseren Absicht den Baum der Erkenntnis, aber gewöhnlich einen solchen, der nicht am Wege des Herrn steht.
[31,18] Bis hierher wäre alles klar; nun aber fragt es sich: Genügt es schon zum ewigen Leben, wenn man in solcher allerbesten Absicht einen Zachäus macht?
[31,19] Diese Frage beantwortet die Stelle des Evangeliums, wo der Herr zum auf dem Baume spähenden Zachäus spricht: „Steige herab; denn Ich muß heute noch in deinem Hause speisen!“
[31,20] Das heißt soviel gesagt als: „Zachäus! Enthebe dich deiner hohen Spekulation über Mich, und steige herab in das Gemach deiner Liebe zu Mir; in diesem deinem Hause ist Kost für Mich, da werde Ich einziehen und werde essen in diesem deinem Hause!“
[31,21] Und noch deutlicher gesprochen heißt das soviel als: „Zachäus! Steige in deine erste Demut und Liebe herab; also werde Ich bei dir einziehen und Mich erquicken an solcher Frucht deines Herzens!“ 

[31,22] Sehet, das ist das Praktisch-Theoretische dieses Textes, und die Moral heißt ganz kurz: „Sehet hin auf euren Bruder Zachäus, und folget seinem Beispiele, so wird auch euch das werden, was dem Zachäus geworden ist!“
[31,23] Ich meine, eine jede weitere Theorie wird hier völlig überflüssig sein; denn das Gesagte ist ohnehin von der größten Klarheit. Wer es lesen und beachten wird, der wird auch den Anteil des Zachäus unverrückbar finden, und Ich werde zu Ihm sagen, was Ich zum Zachäus gesagt habe.
[31,24] Solches sei von euch allen gar überaus wohl beachtet! Amen.